Kinder lernen spielend

Das Gras wächst nicht schneller,
wenn man daran zieht.

Vielleicht sollten die Bildungspolitiker sich dieses afrikanische Sprichwort einmal zu Herzen nehmen: In Zeiten, in denen die Vorverlegung des Einschulungsalters und auch die Verkürzung der Gymnasialstufe beschlossene Sache zu sein scheint, deutet alles darauf hin, dass sie versuchen, Kindheit zu verkürzen und Entwicklungszeit zu beschleunigen. Und das ist ein Rückschritt.

Denn Kindheit ist auch historisch gesehen keine Selbstverständlichkeit. In der Geschichte der Pädagogik war es ein langer Weg, bis die Eigengesetzlichkeit und Besonderheit der ersten Lebensjahre gesehen und anerkannt wurde; erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts war Kindheit zu einem sozialen Konzept geworden, das es zu respektieren galt. Aber jetzt, so scheint es, wird diese eigenständige Bedeutung wieder zurückgedrängt, droht „das Verschwinden der Kindheit“ (Neil Postman). Hier nur einige Symptome:

Vorverlegung von schulischem Lernen in die Kindergartenzeit

Einschulung schon vor der Schulfähigkeit

fehlende ethisch-moralische Orientierungshilfen für Kinder

Überflutung der Kinder durch die Scheinwelt der Medien

Gewalt, Egoismus und Gleichgültigkeit gegenüber Kindern

Missbrauch der Kinder als unmündige Konsumenten

Kindheit als Entwicklungsraum entsteht nie von selbst, sie muss von Eltern, Pädagogen und dem sozialpolitischen Umfeld sinnvoll gestaltet werden. Dabei kommt es entscheidend darauf an, wie die „Idee der Kindheit“ verstanden und qualitativ ausgefüllt wird.

Waldorfpädagogische Gesichtspunkte für die frühe Kindheit:

Kinder kommen als Individualitäten zur Welt, die sich mit ihren Begabungen, Neigungen, Interessen und auch Handicaps entwickeln und ihren eigenen Weg gehen wollen. Dabei brauchen sie kompetente erwachsene Vorbilder, liebevolle und sichere Beziehungsverhältnisse und ihre eigene Entwicklungszeit. Es geht also nicht darum, von „außen“ Forderungen und Programme aufzustellen, auf die hin Kinder erzogen und gebildet werden sollen, sondern darum, sich als Erzieher dem Wesen – dem offenbaren und dem verborgenen – des Kindes zu nähern. „Aus dem Wesen des werdenden Menschen heraus werden sich wie von selbst die Gesichtspunkte für die Erziehung ergeben.“(Rudolf Steiner, 1907)

Deshalb dürfen Kinder weder in das Zeitraster der Erwachsenenwelt und schon gar nicht in deren politische oder wirtschaftliche Zweckvorstellungen eingepresst werden. Kinder sind lernfähige, lernfreudige und lernbereite Wesen. Ihre Entwicklungsfenster sind gerade in den ersten Kindheitsjahren besonders weit geöffnet. Die Zeit vor der Schule soll dazu dienen, frei von schulischem Lernen Grundfähigkeiten, so genannte Basiskompetenzen zu entwickeln, auf denen später die schulische Erziehung und Bildung aufbauen kann.

Bei diesen Grundfähigkeiten handelt es sich auf gar keinen Fall um isolierbares, nachprüfbares Wissen, sondern sie bilden zusammengenommen das Fundament, an das weitere – und andere – Erziehungs- und Bildungselemente anknüpfen können.

In der frühen Kindheit sind insbesondere folgende sieben Lern- und Entwicklungsziele zu nennen:

Körper- und Bewegungskompetenz
Sinnes- und Wahrnehmungskompetenz
Sprachkompetenz
Phantasie- und Kreativitätskompetenz
Sozialkompetenz
Motivations- und Konzentrationskompetenz
Ethisch- moralische Wertekompetenz

Kinder lernen spielend

Die wichtigste Tätigkeit, die „Arbeit“ des kleinen Kindes, ist das Spiel. Eine gesunde Kindheit bedeutet: Anregungen, Zeit und Raum – um zu spielen.

Drei bedeutsame Spielphasen lassen sich in der Zeit bis zur Schulfähigkeit erkennen:

Bis etwa zum dritten Lebensjahr setzt das Kind das, was es sinnlich wahrnimmt direkt in Tätigkeit um, eine spielende Tätigkeit, die noch weitgehend zweckfrei ist, oft verknüpft mit der Freude an der Wiederholung. Wird diesem Tätigkeits- und Bewegungsdrang genügend Raum und Zeit gegeben, bildet sich so ein Stück des Fundamentes für einen aktiven, tatkräftigen Erwachsenen

Zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr gesellt sich zum reinen Tätigkeitsdrang die Spielphantasie dazu. Jetzt werden neue Welten geschaffen, das sinnlich Wahrgenommene wird innerlich bewegt und spielend umgeformt. So entwickelt sich allmählich die Erwachsenenfähigkeit, schöpferisch die Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu gestalten.

In der dritten Spielstufe, etwa zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr durchdringen mehr und mehr die Verstandes- und Gedächtniskräfte das Spiel; es wird zielgerichteter und ausdauernder. Die hier stattfindende Entfaltung des Gedankenlebens ist ein Grundstein für die lebendige und individuelle Denktätigkeit des erwachsenen Menschen.

Fazit: Lassen wir den Kindern Zeit zum Spielen, bewahren wir sie vor einer zu frühen Einschulung und einer Verschulung des Kindergartens!

Worauf kommt es an?

Kinder wollen und sollen Schritt für Schritt die Welt in ihren Zusammenhängen erkennen und verstehen lernen. Dabei sind mindestens fünf Lern- und Lebensebenen zu berücksichtigen:

  • Tätigkeitsebene
  • soziale Ebene
  • gedankliche Ebene
  • Gefühlsebene
  • ethisch/moralische Ebene

Kinder wollen und sollen Vertrauen in die eigenen wachsenden Kräfte und Fähigkeiten bekommen. Eine Pädagogik, welche die kindliche Spielfreude pflegt und entwickelt, die Anregungen gibt, die den Kindern Zeit lässt, fördert das Kräftewachstum.

Kinder wollen und sollen die Sinnhaftigkeit des eignen Handelns, Fühlens und Denkens entdecken; dazu brauchen sie erwachsene Vorbilder, gelebte und wahrnehmbare Wertvorstellungen ebenso wie Orientierung, Klarheit, sinnvolle Regeln, Rituale und Wahrhaftigkeit.


Text von: Peter Lang, Waldorfkindergartenseminar Stuttgart, Juni 2004

Letzte Änderung: 30.04.2021